1. Kapitel

Asyl im Ashram

Im Gesicht des Mannes kann man lesen wie in einem Tagebuch. Auf den ersten Blick wirkt Markus Bart abgeklärt, unerschütterlich und voller Lebenslust. Ausgeprägte Lachfalten überdecken die vielen Narben. Das energische Kinn und der erhobene Kopf zeugen von starkem Willen. Aber irgendetwas stört dieses Bild. Die Mundwinkel sind leicht verkrampft, die Lippen aufeinandergepresst. Und die Augen? Hinter deren Sanftheit steckt noch etwas anderes. Angst. Er kauert auf dem Marmorboden und blickt auf einen alten, vornehmen Inder, der, auf einen Stock gestützt, gerade eingetreten ist. Die klaren Augen des alten Mannes sehen ihn bewegungslos und durchdringend an.

Raja Patarati setzt sich im Lotussitz auf einen prächtigen Stuhl, dem die Beine abgesägt worden sind, damit der Meister seinen Schülern nicht wie von oben herab gegenübersitzt. Die beiden treffen sich im Ashram, dem spirituellen Zentrum einer Meditationsbewegung in Indien, der eine Oase in der hektischen High-Tech-Metropole Bangalore ist.

Die Palmen- und Mangowäldchen im duftenden Park, der die weitläufige Meditationshalle traditioneller Architektur umgibt, bilden einen seltsamen Kontrast zu den sterilen Glaspalästen, die ringsherum immer schneller aus dem Boden schießen. Der Ashram wirkt wie von ihnen umzingelt. Ihre kalten Fassaden blicken furchterregend auf die kleine grüne Insel in ihrer Mitte. Wie lange hält diese friedliche Welt der wachsenden Gier der Paläste noch stand?

Markus Bart kommt aus Berlin und hat hier bei seinem Meister Zuflucht gesucht. Er war überhastet aufgebrochen, weil er in Deutschland und Österreich nicht mehr seines Lebens sicher sein konnte. Über Jahre hat er es ertragen müssen, vom Staatsschutz überwacht zu werden, weil die Behörden ihn als Staatsfeind betrachten. Vermuten sie in ihm einen Terroristen? Er ist Journalist. Davon lebt er jedenfalls, mehr schlecht als recht.

All das hatte Bart auf irgendeine Weise erduldet. Auch als ihre geheime Wühlarbeit bei den Zeitungen gegen ihn existenzgefährdend geworden war, machte er noch gute Miene zum bösen Spiel. Er sah keine Alternative und ließ sich trotz dieser Verfolgung nicht vertreiben. Aber jetzt war alles ganz anders. Mit einem Schlag. Man hatte versucht ihn umzubringen.

Es dauert lange bis Bart im Gesicht des Meisters ein Zeichen erkennt, das es ihm erlaubt, mit dem Gespräch zu beginnen.

"Warum will man mich töten?" fragt er.
"Du hast die Mächte der Vergangenheit zu neuem Leben erweckt." Der alte Mann hat seinen Blick wie einen Laserstrahl auf sein Gegenüber gerichtet.
"Jetzt zerstören sie mich?"
"Das kommt auf dich an, darauf, was du tust. Du bist allein und wirst ihrer Macht nicht entkommen. Deshalb lasse die Finger von der Sache. Schicke deine Gedanken weg und gedulde dich. Meditiere!"
"Das wird nicht viel ändern. Sie bringen mich trotzdem um. Oder? Was soll ich tun?"
"Überlege wie du dich schützen kannst und tu es mit deinem Herzen. Du wirst Menschen finden die mit dir gehen, es werden Gemeinsamkeiten wachsen und neue Netze, die dich halten".
"Bis dahin bin ich tot".
"Bist du nicht. Nur deine Eitelkeit, dein Ego, kann dich zu Fall bringen. Es ist wie bei Odysseus: Du wirst wachsen oder scheitern - an Dir."

Damit ist das Gespräch beendet. Der alte Meister fährt mit der linken Hand durch seine struppigen weißen Barthaare und sagt: „Komm, lass’ uns meditieren.“

Bart schließt die Augen und hat Sekunden später das Gefühl als würde er von einem kosmischen Wind davongetragen. Er fühlt sich leicht wie eine Feder und schwebt durch das Labyrinth der Gedanken. Weg von seinen Ängsten. Sie haben keine Bedeutung mehr, sie sind wie weggewischt. Er spürt das absolute Nichts; wo nichts mehr ist, außer ein unbeschreibliches Gefühl der Schwerelosigkeit. Es reicht der physikalische Begriff nicht aus, um diesen Zustand zu beschreiben. Es ist eine andere Dimension.
Vielleicht ist es die fünfte Dimension, wie Quantenphysiker eine Energieform nennen, die sie zwar nicht messen können, von der sie aber wissen, dass sie da ist. Jedenfalls findet Bart in diesem Zustand jene Balance wieder, die er braucht, um seinen Geist zu zentrieren, wie er das nennt.
Was war passiert?